„Es ist wichtig, auf der Straße zu sein, weil dort ist das Leben“

Unsere Interviewpartnerin Nurcan ist Mitgründerin des kurdischen Frauenvereins Avesta, der sich 2018 mit fünf weiteren Frauenorganisationen zur Frauensolidarität Europa zusammengeschlossen hat. Zu Beginn der Coronapandemie machte die Frauensolidarität Europa durch Infotische und Demonstrationen mit einem breiten feministischen Bündnis einerseits auf die Situation von Frauen und die gestiegene Gewalt während der Lockdowns, andererseits auf die Frauenrevolution in Rojava aufmerksam. Mit Nurcan sprechen wir außerdem über ihre Konzepte im Umgang mit patriarchaler Gewalt, sowie die Angriffe in Favoriten vor zwei Jahren, bei denen türkische Faschist*innen eine Demonstration der Frauensolidarität Europa gegen häusliche Gewalt attackierten.

Was war damals dein Antrieb, gemeinsam mit Freund*innen die kurdische Frauenorganisation Avesta zu gründen?

Nurcan: Leider bin ich eine von denen, die zu Hause Gewalt erlebt hat. Bis dahin hatte ich immer geglaubt, dass der Partner sich ändern wird, dass er es auch möchte und habe gedacht, dass der Wille, sich zu ändern, auch von ihm kommen sollte. Mit meinem Willen alleine geschieht das nicht. Erst nach der Scheidung habe ich verstandeNurcan: Ich habe viel durchgemacht und ich bin eine von vielen. Und es gibt bestimmt sehr viele andere, die sich noch nicht trauen, das einzugestehen – wie ich, in den ersten Jahren. Nach der Scheidung 2005 habe ich mich getraut, offen darüber zu reden. Ab dann hab ich begonnen, Frauen zu stärken.

Wie habt ihr begonnen, als Verein zu arbeiten?

Nurcan: Wir haben eine Psychologin von der Interventionsstelle geholt und immer wieder erzählt, was die Frauen machen können, wie sie sich schützen können. Ich war hauptsächlich bei Avesta, weil es wirklich sehr viele Frauen gibt, die sich einfach nicht trauen, Gewalterfahrungen öffentlich zu machen. Und in den eigenen Reihen kommt man sehr schnell ins Gespräch, zu zweit, zu dritt. Wir haben den Frauen gesagt, man muss das gar nicht öffentlich machen. Du kannst Folgendes machen, wir stehen hinter dir, du kannst dich uns anvertrauen und schauen, wie weit du gehen möchtest. Wir haben sie gestärkt: Du musst das nicht erleiden. Du musst dieses Leben mit ihm nicht weiterführen.

Wie geht ihr im kurdischen Verein damit um, wenn Männern vorgeworfen wird, gewalttätig zu sein?

Nurcan: Es steht jetzt in unseren Statuten, dass ein Mann oder eine Frau, die gewalttätig ist, nicht bei uns Mitglied werden darf. Also wenn in der Familie Gewalt passiert und sie Mitglied werden wollen, dürfen sie nicht in unsere Gemeinschaft, solange sie sich so verhalten und nicht bessern. Und wenn sie danach wirklich kommen, gibt es eine Plattform für Selbstkritik, wo sie rauf und das zu Wort bringen müssen und je nachdem entscheiden wir: Ja, wir machen einen Probeanlauf, er soll kommen. Gleichzeitig bleiben wir in Kontakt mit der Familie, mit der Frau und den Kindern. Hauptsächlich mit den Kindern, weil meistens die Frauen darüber schweigen, aber die Kinder nicht. Je nachdem kann sich dann die Befristung aufheben oder wir sorgen dafür, dass er nicht kommen darf.

Was hat es mit dem Konzept der Selbstkritik auf sich, von dem du sprichst?

Nurcan: Also, er muss erzählen was war und was zur Zeit ist und welchen Weg er einschlagen möchte. Er muss sich bewusst sein, was er gemacht hat und dass es nicht in Ordnung war. Manchmal gibt es auch von außen Personen, die Kritik ausüben. Es kommt dann darauf an, ob derjenige die Kritik annimmt und sich verändern will. Bei Selbstkritik lernen viele auswendig, was sie sagen sollen. Aber wenn wir spontan Fragen stellen, sieht man sich selber im Spiegel und die Reflexion wirkt.

Wie lange dauert dieser Prozess?

Nurcan: Wir beginnen je nach Schweregrad meistens mit drei Monaten, wenn die Frau zwar Gewalt erfahren hat, aber weiter mit ihm leben möchte. Es wird mit ihm geredet und er bekommt mindestens drei Monate Aufenthaltsverbot im Verein, das heißt auch, drei Monate keinen Kontakt zu unseren Mitgliedern. Er wird aus unserer Gemeinschaft weggewiesen. Nach drei Monaten muss er dann einen Bericht über die Bedenkzeit schreiben und begründen, warum er wieder zur Gesellschaft dazugehören möchte. Dann wird das im Vorstand diskutiert und mit ihm geredet. Dann gibt man ihm wieder eine Frist von zwei oder drei Monaten, bis wir es wieder versuchen. Und wenn keine Beschwerden von der Frau und den Kindern kommen, darf er wieder in unsere Gesellschaft rein. Das Schöne daran ist, dass die Aleviten das Jahrzehnte, Jahrhunderte, tausende von Jahren in ihrem Gebiet gemacht haben. Das Volk selber, also die Dorfbewohner, haben selber entschieden, ob derjenige bliebt oder geht. Das hängt natürlich immer wieder von der Frau ab. Die Frau muss bereit sein, es öffentlich zu machen. Und wenn sie mit der, Strafe will ich nicht sagen, aber dem, was der Volksrat beschlossen hat, einverstanden ist, dann muss der Mann gehen. Das ist sehr gut.

Geht es bei den Fällen mit denen ihr arbeitet primär um physische Gewalt oder unterstützt ihr auch bei psychischer Gewalt?

Nurcan: Beides. Viele Frauen sagen, dass die psychische Gewalt viel belastender ist, als die physische. Sie meinen, nach einer Weile merken wir den Schmerz nicht mehr, aber das Psychische bleibt immer in Erinnerung. Wir sagen, es ist beides Gewalt, egal ob physisch oder psychisch.

Wie habt ihr mit dem kurdischen Frauenverein auf die gestiegene häusliche Gewalt während der Lockdowns in der Pandemie reagiert?

Nurcan: 2018 haben sich fünf Frauenorganisationen in Europa zusammengeschlossen und haben die Frauen Solidarität Europa gegründet. Wir sind während der Pandemie zusammengekommen und ab dem zweiten oder dritten April 2020 haben wir begonnen, für die Frauen öffentlich zu machen, dass die Gewalt gestiegen ist. Freundinnen von uns hatten da Einblick, haben nachgefragt und nachgeforscht. Auch im Umfeld hat man gemerkt, dass die Gewalt zu Hause sehr gestiegen ist. Weil die Zeit mit dem Mann, mit dem man normalerweise keine sieben oder acht Stunden verbringen kann, jetzt auf einmal zu 24 Stunden wird. Es geht auch an die männliche Psyche, dieses zu Hause zu sein und nicht rauskönnen. Aber das heißt noch lange nicht, dass Frauen darunter leiden müssen. Und da haben wir uns gedacht: Wir gehen auf die Straße und machen das bekannt, dass sich die Frauen dann zumindest trauen. Und da haben wir jede Woche an einem anderen Standort ein Meeting gemacht. Das mit der Frauenrevolution in Rojava war damals neu, und das hat sich mit der Frauenbefreiung gut verbinden lassen.

Welche Reaktionen gab es auf eure Infotische gegen Gewalt an Frauen?

Nurcan: Es waren gute. Viele Frauen sind vorbeigekommen, es waren auch Türkinnen dabei, aber hauptsächlich Kurdinnen. Von welcher Organisation war für uns nicht wichtig. Es war für uns wichtig, dass es Frauen für Frauen waren. Sie sind gekommen und mit uns gestanden, das hat mir sehr gut gefallen. Aber sie haben gemeint: Ihr seid zu wenige. Und wir haben gesagt: Ja, wir wissen, wir sind zu wenige. Aber ein Schneeball ist auch klein zu Beginn und kann zu einer Lawine werden. Es ist egal wie viele wir sind, es ist wichtig auf der Straße zu sein, weil dort ist das Leben.

Mit diesen Infotischen in unterschiedlichen Bezirken in Wien während der Pandemie wart ihr immer wieder vor allem verbalen Attacken ausgesetzt. Wie kam es zu den Angriffen im 10. Bezirk auf eure Demonstration kam?

Nurcan: Unser letzter Standort war eben im 10. Bezirk auf der Favoritenstraße. Auch an anderen Standorten gab es sehr viele Übergriffe. Dort sind immer hauptsächlich Männer geweseNurcan: „Gehts heim! Machts das nicht! Ihr brauchts das nicht.“ Oder sie sind auf uns los, sobald sie die YPG-Fahne gesehen habeNurcan: „Terroristen“. Sehr viele Kolleginnen und Kollegen waren der Meinung, dass das keine gute Idee ist, unsere Demo im 10. zu machen. Und als wir fragten, wieso nicht, hat es geheißen, dass dort sehr viele Türken seien. Das war für uns kein Grund, von unserem Vorhaben abzukommen. Auch dort gibt es Türkinnen, die Gewalt ausgesetzt sind. Und in einem Land, wo Demokratie großgeschrieben wird, sollten wir nicht darauf schauen wo viele oder wenige Türken sind. Dann haben sie gesagt: Ja, aber erlaubt uns zumindest euch zu begleiten. Wir haben dann gesagt: Wir brauchen keine Beschützer, das können wir selber machen. Dann haben sie gesagt: Ok, dann wollen wir auch an dieser Aktion teilnehmen. Von uns aus, wir haben kein Problem damit.

Wie sind die Angriffe auf eure Demonstration abgelaufen?

Nurcan: Was mich sehr nachdenklich gemacht hat waren zwei Frauen, die einfach in unsere Reihen reingekommen sind und die YPG-Fahne wegreißen wollten. Dass es Frauen waren. Und danach gab es verbale Angriffe. Am Anfang waren dort nur zwei oder drei Beamte. Dann ist einer in Militärkleidung gekommen und richtig wild auf uns losgegangen. Er war Türke, vielleicht ist er Staatsbürger, aber hatte türkische Nationalität. Dann haben wir gesagt, wir beenden die Demo nach einer Stunde, es hat keinen Sinn. Wir waren fertig. Da war noch immer nicht genug Polizei da, als eine Gruppe gegenüber von uns stand, die uns angegriffen hat: „Ihr seid Terroristen!“, „Ihr gehört alle geköpft.“ Aber weil wir das immer wieder hören, haben wir zusammengepackt und sind zu Vidit gegangen, um darauf zu warten, dass sich die Lage beruhigt. Dann ist eine ganze Gruppe auf uns zugelaufen, um uns anzugreifen und zu schlagen. Es waren wirklich Jugendliche, es waren keine Erwachsenen. Wir sind weiter und in die Vidit Lokale gegangen, uns wurde Tee angeboten und wir haben uns hingesetzt.
Erst zehn Minuten später ist die Polizei gekommen und auf einmal, quer durch den Park, eine ganze Menge Jugendlicher die nur geschrien und geschimpft haben. Ich habe schon vieles gesehen, aber dass sie so schnell mobilisiert worden sind, dass so viele in so kurzer Zeit gekommen sind, das hat mich wirklich nachdenklich gemacht, wie sicher Wien wirklich ist.
Dann sind uns noch Freunde und Freundinnen zu Hilfe geeilt. Die Polizei hat uns, nachdem sie die Türken alle irgendwie zerstreut hat, bis zum Hauptbahnhof begleitet. Am selben Abend haben wir die Nachricht bekommen, dass die Titif angegriffen worden ist.

Wie ordnest du die mediale Debatte um die Angriffe in Favoriten ein?

Nurcan: Das war eine Aktion von Frauen gegen Gewalt an Frauen, gegen häusliche Gewalt. Und es wurde zum Türken-Kurden-Krieg. Die Stadt hat sehr viel versucht zu machen, ich weiß es auch von den Jugendzentren, die diesbezüglich sehr viel Arbeit geleistet haben. Aber wir vergessen immer wieder, dass die Aktion von den Frauen einfach zu etwas anderem gemacht worden ist. Da ist bewusst eine Gruppe zusammengekommen, die diese Frauenaktion einfach als Tagesthema gelöscht hat. Es hieß nur noch, die Türken hätten die Kurden angegriffen. Wieso, warum und wo, davon war keine Rede.
Anscheinend muss immer Krawall sein, damit die Öffentlichkeit aufmerksam wird. Es ist traurig. Wir waren monatelang auf der Straße, um Öffentlichkeitsarbeit gegen häusliche Gewalt zu machen und es hat nichts gebracht. Und auf einmal gab es Krawall und es steht überall in den Medien. Leider ist das mit unserer Frauenaktion untergegangen. Der Angriff war wirklich nur auf die Frauen.

Im Rahmen eurer Mobilisierungen gegen häusliche Gewalt habt ihr auch immer wieder auf Femizide Bezug genommen. Wie kam es dazu?

Nurcan: Wir haben das Thema aufgegriffen, weil es in Kurdistan und den Metropolen der Türkei nicht selten, sondern alltäglich ist. Es werden dort fast täglich Frauen ermordet. Meistens von nahestehenden Männern, also dem Mann, Freund, Bruder, Vater, es sind immer Verwandte und Bekannte, die morden. Und es ist uns aufgefallen, dass in Österreich auch solche Morde geschehen, nicht nur bei uns in der Heimat. Egal auf welche Art und Weise, keine Frau sollte zu früh sterben. Es gibt immer eine Zeit dafür, wir werden alle sterben, aber nicht von anderer Hand.

Die Ermordung von Sakine Cansız und ihren Genoss*innen 2012 können letztlich ebenfalls als Feminizide eingeordnet werden…

Nurcan: Es wurde geklärt, wer der Mörder ist, wer der Auftraggeber ist, aber weder Europa noch Frankreich haben Stellung genommen, dass die Türkei das war. Aber ja, jeden Mittwoch, drei Jahre lang waren wir vor der französischen Botschaft. Und jedes Jahr am 9. Jänner, am Todestag, am Tag des Attentats, gehen wir zur französischen Botschaft, weil wir sie nicht vergessen werden. Weil die Ideologie, die diese Frau hingerichtet hat, weiterlebt und noch immer danach strebt, andere Aktivistinnen zu ermorden. Wir sind damals sehr vorsichtig geworden, weil der Mörder vom türkischen Geheimdienst engagiert war. Aber er hatte das Vertrauen von Sakine gewonnen. Er hat sich einfach reingeschlichen und sie ermordet. Wenn neue Menschen zu uns in den Verein oder zu Aktionen gekommen sind, haben wir doppelt so große Augen und doppelt so große Ohren gehabt: Wer ist das? Von wo ist er? Was macht er? Jetzt wissen wir mittlerweile, dass sehr viele Geheimdienstleute von Erdogan auch in Österreich aktive sind. Wir haben das ja auch bei Berivan Aslan gehört. Aber das schreckt uns nicht ab.

Was können Feminist*innen aus der Revolution in Rojava lernen?

Nurcan: In Europa gibt es die Möglichkeit, in ökonomischer Freiheit zu leben, das ist schon sehr viel wert. Ein System anzustreben, das überall gut ankommen könnte, ist wichtig. Und die Frauen müssen sich einfach zusammenschließen. Weil die Stärke, wenn sie zusammenkommen, kein Patriarchat, keine Männer auseinanderbringen können. Die Frauen müssen nur an sich glauben. Die Welt ändern, das können sie. Wenn wir einen Teil der Erde verändert haben, können wir auch die ganze Welt ändern. Wir müssen nur zusammenkommen und stark sein.

Inwiefern sind in Rojava Femi(ni)zide Thema der Bildungsarbeit und wie denkst du über die Funktion der Bildungsarbeit in Rojava nach? Wie werden die Männer in Rojava mit Bildungsangeboten erreicht?

Nurcan: Es gibt viel Bildungsarbeit, auch zu Gewalt, in diesem Fall hauptsächlich für Männer, weil sich in diesem Fall die Männer ändern müssen. Es gibt schöne Videos, wo lauter Männer sitzen und eine Frau unterrichtet. Das hätte ich mir vor zehn Jahren nicht erträumen lassen, dass Männer sitzen und eine Frau unterrichtet. Aber es muss sich noch sehr viel ändern. Es gibt die Bildungen, aber nicht nur gegen Gewalt, sondern auch über Gleichberechtigung, Frauen, Freiheit allgemein, Frauenbefreiung, wie man in der Ehe miteinander umgeht, Ökologie, Ökonomie. Es gibt und braucht sehr viel Bildung, aber nicht nur dort, auch hier. In Rojava wird es Generationen dauern, bis diese Bildung nicht mehr notwendig ist. Die Bildungsinhalte müssen immer weiter angepasst werden, weil wenn man in einem Dorf was macht, findet man mit der Zeit raus, dass da Lücken sind, dass das nicht ganz passt, dass da Änderungen gemacht gehören. Nicht nur in Rojava, auf der ganzen Welt ist Bildung wichtig, auch für uns hier.

Wie blickst du auf die aktuellen Proteste gegen Femi(ni)zide?

Nurcan: Was mir total gut gefällt ist „Nicht eine Weniger“ – diese Aktionen gleich nach einem Femizid, dass wir wirklich alle zusammenkommen. Wir müssen das noch stärken und da wirklich weiter machen. Es muss sich was ändern, es kann so nicht weiter gehen.