Irmtraut Karlsson begründete gemeinsam mit Johanna Dohnal das erste Frauenhaus in Wien. Sie wuchs in der Kultur des Roten Wiens auf. Themen, die sie beschäftigten waren die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, Gewalt gegen Frauen, sowie die Rolle der Frau im Antifaschismus. Politisch engagierte sie sich in ihrer Jugend im VSSTÖ, der Jugend Generation und später als Frauenpolitikerin bei der SPÖ.
Im Interview spricht sie über die Debatten, die der Gründung des ersten Frauenhauses vorangingen und auf welche Herausforderungen sie stießen. Zudem diskutiert sie eine erweiterte Femi(ni)zid-Definition und das Für und Wider des Femi(ni)zids als Straftatbestand. Die Zeiten haben sich geändert und Aktivismus zu machen ist heute schwieriger als damals, welche Tipps Karlsson jungen Feminist*innen dennoch mit auf den Weg geben möchte, verrät sie am Ende des Interviews.
Sie waren Mitbegründerin des ersten Frauenhauses in Wien, später auch Vorsitzende für den Verein der Frauenhäuser und haben als Abgeordnete die Gewaltschutzgesetzgebungen mitbestimmt. Was waren Debatten, die der Gründung des ersten Frauenhauses vorangegangen sind? Wo gab es Schwierigkeiten und wo wurde lobbyiert?
Irmtraut Karlsson: Durch Kontakte der international ausgelegten kriminalsoziologischen Gesellschaft kamen Diskussionen aus Deutschland oder England zu uns. Ich war eine Zeit im Frauenhaus in Berlin, wo sich die Student*innenbewegung und die Sozialarbeiter*innen dem Thema angenommen hatten. Und ich war in England bei Erin Pizzey im Chiswick Haus. Die Chiswick Women’s Aid war weltweit eine der ersten Zufluchtsstätten für Frauen und Kinder, die vor häuslicher Gewalt fliehen mussten. Dieses Frauenhaus war sehr exzeptionell, weil es durch einen privaten Sponsor finanziert wurde und sie sich somit um keine Subventionen etc. kümmern mussten.
Was sich auch positiv ausgewirkt hat, waren die „drei Engel der Sozialarbeit“: Maria Simon, die Direktorin der Akademie für Sozialarbeit; Anny Kohn-Feuermann, die Leiterin der Sozialarbeit in der Erwachsenenfürsorge der MA12; und Elisabeth Schilder, die die Bewährungshilfe sozusagen auf die Füße gebracht hat. Alle drei waren in der Emigration und haben dort ein anderes Frauenbild und Sozialarbeitsbild erlebt und mitgebracht. Sie haben den Faschismus in seiner ganzen Unterdrückung miterlebt. Als ich damals von der Konferenz in London zurückgekommen bin, wo es um das genannte Chiswick Haus ging, habe ich mir gedacht, dass wir das im Roten Wien auch irgendwie zusammenbringen müssten. Danach gab es eine Gruppe von Studierenden, die sich dem Thema angenommen haben. Sie waren sehr engagiert, sodass ich eigentlich nicht viel machen musste, weil sie in unserem Projektuntericht ein Konzept erarbeitet hatten.
Welche konkreten Schritte haben dann zur tatsächlichen Eröffnung des Frauenhauses geführt? Wie würden Sie die erste Zeit beschreiben?
Irmtraut Karlsson: Ich habe eine Wohnung in der Liechtensteinstraße gefunden, für die Johanna Dohnal, die damals im Landtag war, einen Antrag auf Anmietung stellte. Dort wurden unmögliche Zettelchen mit: „Wir werfen unsere Frauen raus und schicken sie ins Frauenhaus“ herumgereicht. Es war wirklich zum Speiben. Aber die gelernte Buchhalterin Dohnal hat ihre Genialität gezeigt und einen Budgetposten beantragt, also keine Subvention, um die angesucht werden muss. Wenn der Posten erst Mal im Budget enthalten ist, kann dieser zwar gekürzt, aber nicht so einfach gestrichen werden. Das war ein Anfang. Dann haben wir um die Anstellungen gestritten, weil im ersten Jahr nur vier, statt neun bewilligt waren. Die Sache ist dann erschreckend gut gelaufen, d.h. wir waren vom ersten Tag an überfüllt, weshalb die Posten im zweiten Jahr erhöht wurden. Im ersten Jahr haben wir es dennoch auf unvorstellbare Weise hinbekommen, v.a. weil die Gruppe der Studierenden entschlossen war es durchzuziehen und sogar ihre Familienbeihilfen auf neun aufgeteilt hatte. Ich küsse ihnen heut noch alle Hände und Füße, dass sie das durchgehalten haben.
Diese Idylle wurde v.a. von zwei Dingen überschattet: Erstens den Interventionen der Männer in Bezug auf das Frauenhaus: Diejenigen, die mit dem Gemeinde-Pfarrer angereist gekommen sind, aber auch diejenigen, auch aus der SPÖ, von denen ich es nie erwartet hätte. Und zweitens die sogenannte zweite Welle: Die Frauenmorde.
Wie kam es zu dieser zweiten Welle?
Irmtraut Karlsson: Das war viel später, aber der erste Femi(ni)zid vor einem Frauenhaus passierte in St. Pölten. Vielleicht war man da etwas zu optimistisch, in diesem Frauenhaus hatten sie z.B. keine Nachtdienste und die Männer wissen das; die meisten Täter waren hochmanipulativ und kannten sämtliche Schlupflöcher. Wir hatten das Glück, dass wir immer auch nachts besetzt waren und rotiert haben, dadurch ist es uns nicht passiert, dass eine Frau auf dem Weg zum Behördengang o.ä. tätlich angegriffen oder ermordet wurde. Aber auch in der Liechtensteinstraße sind die Männer auf und abgegangen. Sie waren verbissen darauf ihre Frauen „doch zu erwischen“ und haben ihnen ständig aufgelauert. Da hilft das Wegweisen alleine nichts. Ein Bundesgesetzblatt kann sehr locker Vorschreibungen enthalten, aber wie ich das jeden Tag durchsetze, steht auf einem anderen Blatt und es gibt keine Garantie, dass er sich daranhält. Dann hängt es wieder an der Betroffenen, die sich fragen muss, ob er ihr heute auflauert oder nicht.
Gab es öffentliche Reaktionen zu dem Femi(ni)zid in St. Pölten?
Irmtraut Karlsson: Zu dem Zeitpunkt gab es schon drei, vier Frauenhäuser und wir waren alle sehr betroffen. Es gab auch eine kurze, aber nicht sehr große Medienberichterstattung. Teilweise auch Stimmen, die der Meinung waren, dass eh alles vorhersehbar gewesen wäre und der Mann nur hingehen müsse und warten bis die Frau rauskommt usw.
Wann wurde damit begonnen, Morde von Männern an Frauen wirklich als Femi(ni)zide zu zählen und auch so darüber zu berichten?
Irmtraut Karlsson: In der Anfangsdiskussion war der Femi(ni)zid die Tat des muslimischen Outsiders. Das waren teilweise auch spektakuläre Fälle, worüber die Zeitungen „skandalös“ berichten konnten.
Ich habe mich damals schon unbeliebt gemacht, indem ich gesagt habe, dass die Frauenmorde des angesehenen Österreichers nicht gezählt werden. Das waren dann die „Ehetragödien“, wo er zuerst die Frau umgebracht, dann einen Abschiedsbrief geschrieben und dann sich selbst umgebracht hat. In eine ähnliche Richtung gingen Fälle, die als „Überforderung mit der Pflege“ verhandelt wurden. Das wurde auch nicht als Frauenmord betitelt, sondern als „Mitleidstötung“, aber niemand hat sich damit beschäftigt, ob diese Frau wirklich sterben wollte etc. Diese Morde wurden sehr lange einfach zu den Akten gelegt. Das war nicht einmal ein Verbrechen und kam dadurch nicht einmal in die Kriminalstatistik, weil es als Selbstmord bzw. Doppelselbstmord gezählt wurde. Erst später kam die Kategorie des erweiterten Suizids auf, wo man dann die Komplexität der Sache genauer ins Visier genommen hat.
Meiner Meinung nach müsste bei jedem Tötungsdelikt in der Kriminalstatistik nicht nur erfasst werden, ob die Täter-Opfer Beziehung ein Mann-Mann oder Mann-Frau Verhältnis war, sondern auch, ob die Tat als Femi(ni)zid eingestuft wird oder nicht. Die genauen Hintergründe müssten ermittelt werden: War es ein Mord aufgrund der Nicht-Achtung der Frau als Person? – Damit ist für mich eine Femi(ni)zid-Definition erfüllt.
Wir sehen den Begriff auch breiter z.B. auch die staatliche Mitschuld in der Ermöglichung von Femi(ni)ziden durch unterlassene Hilfeleistung usw. Stand es bei euch Mal zur Debatte Femi(ni)zid als eigenen Straftatbestand aufzunehmen?
Irmtraut Karlsson: Solange ich im Nationalrat war wurde keine strafrechtliche Komponente bezüglich Frauenmorde diskutiert, erstens weil wir stark mit dem Wegweiserecht und daran angeknüpfte juristische Fragen beschäftigt waren. Zweitens weil wir in einer Minderheit, der Frauenhausbewegung, gesagt haben, dass das Strafrecht ein irrsinniger Hammer ist und wir erst Möglichkeiten finden müssen Beratungsstellen und den Notruf usw. durchzubringen. Das Strafrecht sollte erst, wenn die Frau aus der Sache raus ist, angegangen werden. Damit es nicht wie bei der Vergewaltigung, die ja immer ein ordentlicher Strafrechtstatbestand war, der Frau nichts hilft. Das Strafrecht ist billig, Femi(ni)zid als eigenen Strafrechtstatbestand, kriegt man sogar mit der jetzigen Frauenministerin durch, aber was bringt es, wenn nicht gleichzeitig das tote Opfer im Prozess eine Fürsprache hat. Es geht mir dabei, um eine opferzentrierte Darstellungsmöglichkeit. Und zweitens muss, wie gesagt, genauer hingeschaut werden: Der Femi(ni)zid findet nicht nur in der Beziehung statt, sondern auch dort, wo keine Beziehung ist und wo jemand hingeht und einfach seine Wut oder was auch immer an Frauen auslässt.
Gab es außer den rassistischen Instrumentalisierungen noch andere Bilder, die Ihnen in der Femi(ni)zid-Berichterstattung aufgestoßen sind?
Irmtraut Karlsson: Das Shaming, das Betroffenen gegenüber passiert. Z.B. bei dem Fall mit dem Polizisten vor einigen Jahren, der seine Lebensgefährtin und das gemeinsame Kind umgebracht hat und die Zeitungen geschrieben haben: „sie war so fordernd“ usw. Das Glück für die Getötete war, dass ihre energische Schwester das nicht hat ruhen lassen.
Die Täter suchen sich teilweise sehr vereinsamte Frauen mit Migrationshintergrund, oder ohne Familie, oder mit Familien, die der Meinung sind, dass die Frauen nichts wert sind. Dadurch kennen wir oft, v.a. wenn es sich um einen Österreicher handelt, nur die Darstellung des Überlebenden, die auch im Gerichtsverfahren picken bleibt. Das Opfer kann nicht mehr reden, außer die Familie des Opfers nimmt sich dessen an. Ich versuche daher schon lange durchzubringen, dass auch dem Opfer ein*e Opferanwält*in zur Verfügung gestellt wird, die einfach nachzuforschen hat wie das Opfer wirklich war, damit dieses Shaming nicht so einfach passieren kann.
Habt ihr aktionistisch versucht, auf das Thema Femi(ni)zide aufmerksam zu machen?
Irmtraut Karlsson: Mit der Gruppe der Studierenden haben wir jedes Jahr während der Novembertage eine Aktion zu einem bestimmten Thema gemacht. Für die erste Novemberaktion haben wir die Frauenhaustelefonnummer auf Pickerl gedruckt, die wir auf den Damenklos angebracht haben, um Aufmerksamkeit und Bekanntheit zu generieren.
Bei einer anderen Aktion der ersten Jahre, an die ich mich gut erinnern kann, haben wir einen Wohnwagen vors Rathaus gestellt, um auf die Wohnsituation aufmerksam zu machen. Das haben wir tatsächlich die vollen 16 Tage in der Novemberkälte durchgezogen. Danach kam Christine Schirmer, die damals für die Bauten zuständig war, zu uns runter und wir haben Übergangswohnungen fürs Frauenhaus gekriegt.
In diesen Tagen haben wir immer darauf bestanden, dass wir irgendeine Aktion machen und/oder irgendein Flugblatt verteilt wird. Nach der Gründung der autonomen Frauenhäuser wurde aktionistisch auch viel von ihnen getragen. Die Wiener Frauenhäuser haben viel Aufklärungsarbeit zu bestimmten Themen gemacht, zuletzt z.B. zu Cyberkriminalität. Und später gab es natürlich die allgemeineren Aktionen, aber im ersten Jahr gab es noch keine allgemeine Demo gegen Gewalt an Frauen. Eine große Demo, an die ich mich erinnern kann, war die für Schwangerschaftsabbruch. Aber das Thema Gewalt war damals noch nicht so ein transportierbares Thema.
Was denken Sie, was künftige Generationen von Ihren Kämpfen lernen können?
Irmtraut Karlsson: Zunächst würde ich gerne darauf hinweisen, dass wir in einer Zeit der Vollbeschäftigung aufmüpfig waren. Durch die existentielle Sicherheit mussten wir uns viel weniger Gedanken um Konsequenzen als heute machen.
Es war auch so, dass viele von uns sehr viel Kontakt zu Leuten hatten, die entweder emigriert waren oder wie beispielsweise Rosa Jochmann, im KZ waren. Dadurch entstand eine Denkweise nach dem Motto: „was soll mir passieren, an die Wand stellen können sie mich nicht mehr.“ Das hat sich auch verschoben: Demonstrationen oder Aktionen werden heute ganz anders verhandelt oder bestraft.
Und zuletzt finde ich, dass das Zusammenschließen der Frauen heute viel mutiger ist als es bei uns war.
Welche „Fehler“ sollten junge Feminist*innen nicht machen?
Irmtraut Karlsson: Aus bedauerlicher Eigenerfahrung kann ich den Rat geben sich nicht aufspalten zu lassen, weil das viel Energie kostet. Das war z.B. beim Frauenhaus so gut, dass die Gruppe der Studierenden sich auch nach anderen Möglichkeiten umgeschaut hat. Sie haben untereinander abgewogen, wo sie das Optimum durchsetzen können. Man muss sich ja nicht verkaufen, aber es können gewisse Standpunkte gesetzt werden unter deren Einhaltung man zugesteht, dass eine Zusammenarbeit funktioniert. Vertrauen ist auch wichtig und es soll um die Sache gehen und nicht wer hat’s erfunden: ich, ich, ich.
Ein zweites Learning folgt dem Motto: ‚publish or perish‘. Ich bin lieber in die Praxis gegangen, anstatt Artikel zu schreiben und dadurch eine Leseliste vorweisen zu können. Als Frauen sollten wir aber publizieren. Es gibt einen Ausdruck, der sehr gut beschreibt, warum die Männer in der Geschichtsschreibung so gut wegkommen: „der Kult der toten Dinge“® Lisa Fischer: ein Denkmal, ein Buch, eine Publikationsliste. Wer keine toten Dinge hinterlässt – da kann frau getan haben so viel sie will, sie bleibt nicht in der Erinnerung, im Kult der toten Dinge. Mit den neuen Medien haben wir heute ganz andere Herausforderungen, mit denen wir umgehen und mit unseren Namen nutzen müssen.