Die Aktivist*innen von Alerta Feminista Austria stehen für einen deskolonialen feministischen Aktivismus. Ihre Gruppe ist ein Safe Space, in dem sie über gemeinsame migrantische Erfahrungen sprechen können. Außerdem besteht ihre Arbeit darin, sich mit der Situation in Wien/Österreich auseinanderzusetzen und zu versuchen, die Praxis aus Lateinamerika – wo die meisten von ihnen herkommen – hier zu etablieren. Das, was in Lateinamerika passiert, wollen sie auch hier sichtbar machen, um ihre Anteilnahme und Solidarität zu zeigen.
Im Interview sprechen Martx und Susana über die Relevanz, sich den öffentlichen, männlich konnotierten Raum anzueignen und die Wichtigkeit von Bündnissen und (internationaler) Vernetzung. Ein besonderes Anliegen ist ihnen die Anerkennung der Diversität der spanischen und lateinamerikanischen aktivistischen Community in Wien und sie verraten uns, was wir hier von ihnen lernen können.
Was waren wichtige Eckpunkte deines/eures feministischen Werdegangs und wie bist du/seid ihr zum Thema patriarchale Gewalt und Femi(ni)zide gekommen?
Ich komme ursprünglich aus Spanien und als ich bereits in Wien gelebt habe, habe ich durch Zufall einige Aktivist*innen aus Spanien übers Internet kennengelernt. In Wien hat sich eine kleine Gruppe von Auslands-Spanier*innen gebildet, die sich anfangs v.a. über die Situation in Spanien ausgetauscht hat und über die Rechte, die Spanier*innen verlieren, wenn sie in einem anderen Land leben. Aus dieser Gruppe sind dann verschiedene Arbeitsgruppen entstanden. 2014/2015 hat Spaniens damaliger Justizminister versucht, das Abtreibungsrecht zu verschärfen. Das war das erste Mal, dass wir als Gruppe etwas Feministisches gemacht haben. Durch Proteste wollten wir verhindern, dass diese Gesetze durchgesetzt werden und haben uns erstmals, zunächst nur auf europäischer Ebene, mit Gruppen in anderen Ländern zusammengeschlossen. Grundsätzlich sollte die Möglichkeit geschaffen werden, den Abbruch außerhalb Spaniens durchzuführen, falls er dort verboten wird.
Am 08. März 2017 gab es dann den ersten Paro Internacional de Mujeres, der internationale Frauenstreik bzw. feministischer Streik: Eine Zusammenarbeit zwischen Organisationen in Lateinamerika und hier in Europa. Wir wollten für den 8. März 2018 auch einen feministischen Streik organisieren und alle möglichen Kollektive vernetzen. Dadurch bin ich zum Feminismus und zum Thema patriarchale Gewalt gekommen – und zu den feministischen Gruppen in Wien. 2018 entstanden viele Vernetzungsgruppen und es gab viel Austausch, wodurch am 8. März dasselbe Lied in verschiedenen Ländern gesungen wurde oder ein gemeinsamer Hashtag entstand. Seitdem wurden enge Verbindungen geschaffen und es gab Vernetzungstreffen, wodurch ich verschiedene Formen der Organisation und des Widerstands kennengelernt habe. In den letzten drei Jahren (2020-2022) haben sich die verschiedenen Gruppen der migrantisch spanisch- und portugiesischsprachigen Community auch in Wien für den 8. März organisiert und einen gemeinsamen Block entwickelt: Feministisches* Bloco Descolonial.
Welche Gruppen sind denn für Wien wichtig und was sind ihre Anliegen?
Für unseren Block am 8. März ist die Gruppe Maracatu Nossa Luz mit den Trommeln sehr wichtig, weil das ermöglicht während den Protesten zu tanzen und den Körper einzusetzen. Ebenso die Gruppe Moenani Sisters, die Tänzerinnen, die Performances machen. Die Hispanofeministas sind auch fester Bestandteil des Blocks. Die Futuñeras sind Künstler*innen, die mit Graffiti auf der Straße arbeiten. Das ist nochmal eine andere Protestform. Und sie haben auch Workshops zur Herstellung von Masken veranstaltet, die wir bei verschiedenen Aktionen verwenden. Viele dieser Gruppen beteiligen sich auch an den Aktionen der Antikolonialen Interventionen in Wien, die am 12. Oktober, dem Tag des indigenen, schwarzen und volkstümlichen Widerstands (in Österreich heute noch als Kolumbus-Tag gefeiert), stattfinden.
Dabei ist mir wichtig zu betonen, dass die Leute manchmal denken, dass alle spanisch- und portugiesischsprachigen Aktivist*innen gleich sind und auch unser Aktivismus der Gleiche ist. Aber die Gruppen sind sehr verschieden. Natürlich treffen wir uns manchmal und kommen zusammen. Am 8. März passt es sehr gut, da ergänzen wir uns, aber oft eben auch nicht. Wir haben verschiedene Ziele, Hintergründe, Intentionen und auch ganz verschiedene Arten, Aktivismus zu machen. Es ist wichtig, eigene Spaces zu haben, wo sich verschiedene Personen ausdrücken und die Dinge auch in Ruhe entwickeln, proben und gestalten können.
Welche Proteste aus Spanien und Lateinamerika waren für Wien besonders wichtig?
Z.B. die Las Tesis Bewegung, die im Oktober 2019 in Chile begann, als es dort sehr viel Polizeigewalt und Menschenrechtsverletzungen gab. Die Gruppe existierte schon davor. Ein Beispiel dafür ist die Performance „un violador en tu camino“ des Kollektivs Las Tesis, die im November 2019 in Chile als Reaktion auf die Polizeigewalt und die Menschenrechtsverletzungen im Zuge der sozialen Unruhen stattfand. Ihre Form von Aktivismus bestand darin, feministische Texte und Inhalte performativ darzustellen und dadurch Theorie leichter an die Menschen und auf die Straßen zu bringen. Im Kontext von 2019 haben sie sich am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, dazu entschlossen, eine Performance an ihrem Entstehungsort in Valparaíso vor dem Gebäude der Polizei zu machen. Sie wollten damit auf die Verantwortung des Staates in dieser ganzen Gewalt hinweisen.
Das Kraftvolle an der Performance ist, dass sie eine Problematik darstellt, in der sich viele wiedererkennen: Aggression, (Polizei-)Gewalt, Vergewaltigung oder sexuelle Belästigung. Der Text ist sehr einfach und dazu gibt es einen eindringlichen Beat mit Choreografie. Die Performance zeigt, dass Gewalt gegen Frauen institutionelle Gewalt ist, die von der Kirche, vom Staat und vom System ausgeht. Innerhalb von Wochen wurde sie auf der ganzen Welt wiederholt, übersetzt und auf Social Media geteilt. Zum Glück hatten wir damals in Wien bereits die Gruppe Chile Despertó Viena, die gemeinsam mit der Gruppe Ni una Menos Austria im Dezember die Performance wiederholt hat – auf Spanisch und Deutsch. Es war schön, weil wir wirklich viele waren. Viele Aktivist*innen und Freund*innen, die sich aus den Augen verloren hatten, haben sich wieder getroffen. Es war ein sehr starkes Zeichen in Wien, worüber später auch geredet und berichtet wurde. Seitdem wiederholen wir die Performance jedes Jahr am 8. März. Sie ist eine kleine Tradition geworden, die uns immer wieder Kraft gibt.
Und natürlich der bereits genannte feministische Streik 2018 in Wien, der sich an den Paro Internacional de Mujeres von 2017 anschluss, war besonders stark und birgt bis heute sehr viel Potential. Jetzt habe ich die Hoffnung durch die neue österreichweite Vernetzung, dass es vielleicht nächstes Jahr zu einer bundesweiten Aktion am 8. März kommt. Ich freue mich sehr, dass durch die AG Feministischer Streik so viel in Richtung Vernetzung entsteht und so viele Aktionen geplant werden.
Die Protestformen aus Lateinamerika unterscheiden sich teilweise von denen in Europa, indem Musik oder Körpereinsatz in Tanz und Performances eine wichtigere Rolle spielt. Fallen euch noch andere Unterschiede ein, die sich vielleicht durch konkrete Proteste in Wien manifestiert haben?
Es gab ein Event über Femi(ni)zide, das die Futuñeras am Yppenplatz veranstaltet haben. Es war eine Art Hommage an die ermordeten Frauen* und gleichzeitig ein Fest für die Überlebenden. Die Message ist, dass Feiern und Trauer gleichzeitig existieren. Bei dem Event gab es z.B. auch Essen – das ist auch eine Form des Protestes: Gemeinsames Kochen und Essen verbindet. Es gab Konzerte und Beiträge und extra für diesen Tag haben die Futuñeras ein Graffiti zum Thema Femi(ni)zide gestaltet.
Einmal haben wir zum 25. November 2017 einen Eisberg mit Kreide auf den Boden gemalt. Es war als partizipative Aktivität gestaltet, wobei wir den Femi(ni)zid an die Spitze geschrieben haben, dann haben alle gemeinsam angefangen, andere Gewaltsituationen mit Kreide darunter am Boden zu schreiben. Der Eisberg sollte zeigen, dass der Femi(ni)zid das ist, was wir sehen – das ist schrecklich, aber das passiert, weil andere Gewaltformen erlaubt und naturalisiert werden. Wenn du nur an der Spitze arbeitest, kommst du nicht ans Ziel, du musst in alle Richtungen arbeiten und alle Formen der Gewalt bekämpfen.
Die Ni una Menos (Keine einzige [Frau] weniger) Bewegung kommt ursprünglich aus Lateinamerika als Feminist*innen in Argentinien am 3. Juni 2015 zum ersten Mal unter diesem Motto auf die Straße gegangen sind. In Europa hat die Bewegung viel Verbreitung gefunden. Welche Debatten gab es darüber?
Ni una Menos ist mehr oder weniger als Bewegung oder feministische Protestform entstanden. Dabei ist wichtig zu betonen, dass Ni una Menos keine Organisation ist, sondern eine Bewegung oder ein Motto, mit dem sich viele Feminist*innen auf der Welt identifizieren. In Italien gibt es z.B. auch Non una di meno und sie sind, so wie die 8M Streik Gruppen in Spanien, auch vernetzt, haben Versammlungen auf nationaler Ebene und gleichzeitig verschiedene Gruppen und AGs, in den verschiedenen Städten und Ortschaften. Sie entscheiden aber selbstständig, ohne dass sie die Schwerpunkte, Aktionen oder die Inhalte, die sie auf Social Media oder auf ihren Blogs posten, in ganz Italien oder Spanien abstimmen müssen. Auf europäischer Ebene sind diese Gruppen teilweise vernetzt. Sie inspirieren sich gegenseitig und reden über ihre Aktionen. Für die deutschsprachigen Gruppen gibt es oft Materialien, die ausgetauscht und übernommen werden können.
Der Name Ni una Menos ist wie ein Magnet, der Interesse weckt und v.a. hier in Europa eine feministische Referenz darstellt. Einerseits ist das sehr wichtig, weil du z.B. als Migrant*in aus Lateinamerika mit Hilfe des Namens verschiedene Gruppierungen finden, dich austauschen und vernetzen kannst. Letztendlich führt der Bekanntheitsgrad aber auch dazu, dass Ni una Menos die einzige Gruppe ist, die wahrgenommen wird. Tatsächlich sind wir aber unterschiedliche Gruppen. Unsere Diversität müssen wir anerkennen und schützen und wenn der Name so viele Menschen anspricht, muss man vorsichtig damit umgehen und auch die Verantwortung dahinter erkennen. Die Plattform muss als solche verwendet werden, damit auch die anderen Gruppen sichtbar gemacht und gehört werden. Ab und zu sind für die österreichischen Feminist*innen alle Latinas von Ni una Menos Austria, das ist schade. Für mich haben wir alle die Verantwortung, Diversität zu fördern und sichtbar zu machen.
Wie schätzt ihr die aktuellen Proteste am ehemaligen Karlsplatz ein? Was ist gut? Was sollte geändert werden?
Die Claim the Space Kundgebungen hatten anfangs eine ganz eigene Dynamik, hinter der viel Kraft gesteckt hat. Ein starkes Netzwerk aus verschiedenen Gruppen zu bauen ist super wichtig, weil viele Gruppen mehr Sichtbarkeit erzeugen. Die Medien haben anders berichtet, das Thema war gesellschaftlich generell mehr bekannt; ähnlich wie in Spanien mit dem feministischen Streik, wo Feminismus nicht mehr als Schimpfwort betrachtet wurde, sondern zu einer Normalität wurde. Es war schön zu beobachten, wie das Netzwerk gewachsen ist und wie gut neue Menschen integriert und verschiedene Verantwortlichkeiten verteilt wurden. Aber leider passiert es viel zu oft, dass die Leute trotzdem ausbrennen, v.a. weil die Kundgebungen nach jedem Femi(ni)zid stattfinden. Früher oder später kommt der Moment, in dem gewisse Routinen und Dynamiken entstehen und man sich neu erfinden muss. Vielleicht ist dieser Moment jetzt auch bei Claim the Space gekommen. So wie ich das wahrgenommen habe, ist das auch in Arbeit. In welche Richtung ist eine gute Frage: Wie könnte es besser, leichter oder wirkungsvoller werden? Die Aktivist*innen sagen, dass es mit der Zeit auf die Substanz geht, nach jedem Femi(ni)zid auf die Straße zu gehen. Das ist ein sehr unangenehmes Thema und sich damit permanent auseinanderzusetzen ist langfristig nicht so einfach. Man muss erfinderisch sein: Wie können wir in Claim the Space jeden Femi(ni)zid aktiv beantworten, aber so dass darin auch die Sorge- und Carearbeit mitgedacht wird und die Aktivist*innen, die dahinter stehen, nicht mit der Zeit überfordert sind oder ausbrennen. Durch Rotieren, Pausen, Verteilung von Verantwortlichkeiten, etc. könnte es vielleicht wieder besser möglich werden. Diesbezüglich brauchen wir vielleicht mehr Zeit, um kollektiv zu einer Umorientierung zu kommen. Die kollektiven Entscheidungen sind so respektvoll und so offen, aber ab und zu fehlt irgendwie die “Chefin” (lacht). Das ist kein Führungsthema, aber gewisse Dinge müssen irgendwann geklärt werden, damit es praktikabel bleibt.
Ein weiterer Punkt ist, dass Claim the Space gerade für mich als migrantische Person als offener Raum sehr wichtig ist, weil unsere Stimmen gehört werden. Vielleicht noch im Anschluss daran als Anmerkung für die Zukunft: Vielen Migrant*innen fällt es schwer, den langen, oft sehr akademischen Reden zu folgen – v.a. aufgrund der Sprache. Es wäre also schön, einen Weg zu finden, das Ganze inklusiver zu gestalten. Ich bin sehr froh, dass ich mit meinem Körper und meiner Stimme dabei sein kann, aber ich bin auch traurig, dass ich nicht alles verstehen kann. In gewisser Weise entfernen wir uns dadurch voneinander, weil es nicht möglich ist, zu folgen.
Was können Feminist*innen hier von den Kämpfen in Lateinamerika lernen?
Es ist wichtig, gemeinsam eine feministische Gesellschaft zu bauen, nicht nur hier in Wien, sondern in allen Ländern und Städten in Europa. Ich denke, das war es, was Femi(ni)zide in Lateinamerika letztendlich als Delikt im Strafrecht verankert hat. Es wurde länderübergreifend als Kollektivbewegung zwischen feministischen Gruppen und Bewegungen in verschiedenen Ländern von Lateinamerika zusammengearbeitet.
Ich denke auch, dass im Aktivismus das Thema (Selbst-)Heilung ein wichtiges ist. Du musst überall kämpfen, aber du musst auch auf dich schauen. So kann man auch in Bezug darauf, wie Proteste wahrgenommen werden, viel aus Lateinamerika lernen: Sie sind nicht nur traurig und ernst und machen wütend, sondern diese Gefühle werden gleichzeitig auch durch gemeinsames Singen, Tanzen und Feiern kompensiert. Sonst ist alles zu negativ und zu frustrierend. Der Spaß darf nicht verloren gehen, das ist auch eine kollektive Heilung – das Leben zu schätzen und zu genießen und mit dem ganzen Körper zu arbeiten und nicht nur mit dem Kopf. Das, was ich aus den Jahren mit den compañeres gelernt habe ist, dass du nicht nur mit deiner Stimme protestieren kannst, sondern auch mit deinen Händen, Füßen, mit dem ganzen Körper. Du kannst während den Aktionen ein sehr schönes Gefühl haben, weil du es nicht alleine machst, sondern Teil von einem Kollektiv bist. Das ist ein sehr besonderes Gefühl, wohingegen die Menschen in Europa oft Einzelgänger sind.
Der öffentliche Raum ist männlich konnotiert, Männer erlangen Wissen im öffentlichen Raum, sie sind laut, weil es ihr Raum ist. Uns wird der private Raum zugewiesen und deswegen ist es so wichtig uns auch diesen öffentlichen Raum anzueignen und ihn mit unseren s.g. “Cuerpas” Körper und unserer Präsenz zu feiern und laut zu sein. Deswegen mag ich solche Namen wie Kollektiv lauter und Claim the Space: Nehmt den Raum! Wir sind sichtbar und nehmen uns den Raum mit unseren Körpern ein. Tänze sind seit ewigen Zeiten eine Ausdrucksform aus Lateinamerika. Versklavte Menschen nutzen Tänze und Gesang als eine Form von Widerstand. Mächtige Leute wollten sie entmenschlichen und sie entgegneten: „Nein, wir feiern jeden Moment, in dem wir zusammen und am Leben sind.” Das Zusammensein auf der Straße zu feiern ist sehr wichtig und durch Körpereinsatz und die Kraft unserer Stimmen protestieren wir. Sie wollen uns stumm machen, deswegen müssen wir laut sein.